„Die Region Hannover muss den konsequenten Weg zu einer breit diversifizierten Wirtschaftstruktur weitergehen“

Ein Gespräch mit Prof. Dr. Javier Revilla Diez (Mai 2010)

Institut für Sozialpolitik, Leibniz Universität Hannover.Professor für Wirtschaftsgeographie an der Gottfried Wilhelm Leibniz Universität Hannover und wissenschaftlicher Leiter des Niedersächsischen Instituts für Wirtschaftsforschung (NIW)

Sehr geehrter Herr Prof. Dr. Revilla Diez,

vielen Dank, dass Sie nach den vorangegangenen freundlichen Grußworten nun auch für ein Experteninterview zur Verfügung stehen. Am NIW, dem Niedersächsischen Institut für Wirtschaftsforschung, und dem Institut für Wirtschafts- und Kulturgeographie der Leibniz Universität Hannover beschäftigen Sie sich tagein tagaus mit interessanten Fragestellungen zur regionalen Wirtschaftsentwicklung.

Herr Professor Revilla Diez, der ifo-Geschäftsklimaindex stieg jüngst auf 98,1 Punkte und erreichte somit den höchsten Stand seit Juni 2008. Ifo-Chef Hans-Werner Sinn sieht auch in der „Wirtschaft den Frühling als ausgebrochen“ – ist der Frühling ebenfalls in Hannover angekommen?

Ja, es gibt Anzeichen der Erholung. Allerdings bin ich mir noch nicht sicher, ob die Krise tatsächlich schon überwunden ist. Es ist wie mit dem derzeitigen Wetter - es ist sehr wechselhaft und schlecht prognostizierbar. Noch ist nicht absehbar, welche weiteren Konsequenzen aus den finanziellen Schieflagen in Griechenland, Spanien und Portugal erwachsen. Weitere europäische Staaten wie z. B. Italien oder Großbritannien stehen ebenfalls vor enormen Herausforderungen. Da ein Großteil unserer Exporte mit Staaten innerhalb der EU erfolgt, ist unsere weitere Entwicklung auch von der wirtschaftlichen Entwicklung unserer Nachbarn abhängig.

Die Region Hannover ist vergleichsweise gut durch die Krise gekommen. Dennoch ist die regionale Wirtschaftskraft auch hier durch geringe Kapazitätsauslastung, Kurzarbeit, Bonitätsprobleme oder Insolvenzen belastet. Welche Chancen und Risiken sehen Sie daraus für den Wachstumsprozess in der Region?

Während sich der Dienstleistungsbereich in den letzten Jahren immer mehr zum regionalen Wachstumsmotor entwickelt hat, sehe ich mit großer Sorge auf die für die Region Hannover so bedeutsame Automobilindustrie. Die Marke VW Nutzfahrzeuge mit dem Werk in Stöcken ist besonders hart von der Wirtschaftskrise betroffen. Als fokales Unternehmen innerhalb der Automobilindustrie beeinflusst das Wohlergehen Volkswagens auch zahlreiche weitere Unternehmen beispielsweise der Zulieferindustrie. Das Verarbeitende Gewerbe in der Region ist nach wie vor sehr stark von der Automobilindustrie abhängig. Gerade bin ich von einer Exkursion mit Studierenden nach Kiel zurückgekommen. Dort stellt der Niedergang der Werftenindustrie eine sehr einschneidende Entwicklung für die Regionalwirtschaft dar. Kiel fällt es sehr schwer, neue Industrien anzusiedeln und die Beschäftigungsverluste zu kompensieren. Aus diesem Grund muss die Region Hannover den konsequenten Weg zu einer breit diversifizierten Wirtschaftstruktur weitergehen. Sehr gute Entwicklungsmöglichkeiten sehe ich in den Bereichen Produktionstechnik und optische Technologien. Entwicklungspotenziale besitzen auch die Bereiche Umwelttechnologien, Informations- und Kommunikationstechnologien und Gesundheitswirtschaft. Im Gegensatz zu vielen anderen Standorten in Deutschland kann Hannover von seiner Ausstattung an Hochschulen wie z. B. die Leibniz Universität, die Medizinische Hochschule und die Tierärztliche Hochschule profitieren, die in bestimmten Bereichen international herausragen. Hier sind die Bemühungen zu stärken, die eine engere Zusammenarbeit zwischen Wissenschaft, Wirtschaft und Verwaltung versuchen, um eine zukunftsfähige Entwicklung in der Region Hannover zu sichern.

Die Natur spielte im bisherigen Jahresverlauf eine entscheidende Rolle für die Wirtschaftsaktivitäten. Erst der strenge Winter mit Schnee und Frost, dann die Sperrung des Luftraumes aufgrund der Eruptionen des isländischen Vulkans Eyjafjallajökull. Rächt sich Mutter Natur, wenn wir nicht nachhaltiger wirtschaften?

Auch wenn ich kein Experte für Geologie bin, lassen sich extreme Naturereignisse wie Erdbeben oder Vulkanausbrüche nur schlecht vorhersagen. Ich glaube auch nicht, dass diese Ereignisse durch den Menschen beeinflussbar sind. Allerdings zeigt der von Ihnen genannte Ascheregen des isländischen Vulkans, wie sehr wir von einem reibungslosen Ablauf der Transportkette abhängen. Die zunehmende Globalisierung hat zur Folge, dass die Unternehmen ihre Produktion weltweit aufspalten und Just-in-time Lieferungen benötigen. Dass Unternehmen wie z.B. BMW die Produktion drosseln müssen, nur weil ein Vulkan in Island ausbricht, zeigt diese Anfälligkeit sehr deutlich. Durch den Menschen ausgelöste Klimaveränderungen dagegen sind eine zunehmende Gefahr. Die Zahl von anthropogen beeinflussten Ereignissen wie Sturmfluten, Überschwemmungen und Dürren nehmen zu. Der Ausstoß von Emissionen wie z.B. CO2 muss in der Tat deutlich reduziert werden. Dabei handelt es sich um ein globales Anliegen, das aber, so zeigt die letzte Klimakonferenz in Kopenhagen, ein Minenfeld unterschiedlichster Interessen darstellt. Leider sind die Fortschritte auf globaler Ebene sehr gering. Die deutsche Wirtschaft kann als Vorbild für innovative Umweltlösungen vorangehen, auch wenn nicht alle Staaten mitziehen. Wie bereits in der vorangegangenen Frage angedeutet, kann die Umwelttechnologie eine wichtige Wachstumsbranche für uns werden. Das technologische Potenzial ist vorhanden, um die eigene Position weiter auszubauen.

Die CeBIT und die Hannover Messe sind im jeweiligen Kernsegment die weltweit größten Messen ihrer Art. Die Ausstellerzahlen bei der CeBIT sind lediglich um 4% gesunken, die Hannover Messe konnte fast an das Boomjahr 2008 anknüpfen. Die Besucherzahlen sind jedoch rückläufig. Stellen die Messen einen guten Indikator für einen nachhaltigen Wirtschaftsaufschwung dar, so wie es Verband Deutscher Maschinen- und Anlagenbau-Chef Hesse erklärt? Welche ökonomischen Effekte verbleiben davon in der Region Hannover?

Messen stellen in einer Welt, die durch Internet und mobile Kommunikation geprägt ist, immer noch ein wichtiges Ereignis dar, das konnten wir in diesem Jahr in Hannover sehr gut beobachten. Auch wenn die Besucherzahlen zurückgegangen sind (was ja auch nicht zuletzt an der Sperrung des Luftraumes in Folge des Ascheregens lag), bieten die großen internationalen Messen in Hannover noch eine wichtige Plattform für Entscheider. Gerade in der Krise scheint die Messe eine wichtige Funktion in dem Festigen und Neuknüpfen von Geschäftsbeziehungen zu sein, natürlich auch für Unternehmen aus der Region. Darüber hinaus sind Messen ein wichtiger regionaler Wirtschaftsfaktor. Neben der Messe AG profitieren durch die Ausgaben der Aussteller und Besucher das Hotel- und Gastgewerbe, der Einzelhandel und weiteren Dienstleistungsbetriebe.

Wir legen in der dritten Geschäftsklimastudie den Fokus auf den Wirtschaftsfonds und die Kreditklemme. In den Medien wird das Thema stark polemisiert vorgetragen. Was raten Sie den KMU im Verhandlungskontext mit den Banken? Welche Rolle sollten die Regionalpolitik und Wirtschaftsförderung spielen?

In dieser Phase ist es ungemein wichtig, die wettbewerbsfähigen Klein- und mittleren Unternehmen zu unterstützen und sie aus Ihrer Kreditklemme zu führen. Die KMU sind gefordert, zukunftsfähige Geschäftsmodelle zu entwickeln. Regionalpolitik und Wirtschaftsförderung können dabei einen sehr wichtigen Beitrag leisten. Allerdings darf es nicht zu Erhaltunsgsubventionen für Betriebe kommen. Das Geld sollte dann lieber in den Aufbau neuer wettbewerbsfähiger Strukturen ausgegeben werden.

Herr Prof. Dr. Revilla Diez, im Februar 2010 legte Ihr Institut, das NIW, eine umfassende Analyse zur demographischen Entwicklung in der Region Hannover vor. Kernergebnis ist der zunehmende Fachkräftemangel in unserer Region. Was können Forschung, Bildung und Wirtschaft tun, um noch enger zusammen zu rücken und Talente nach Hannover zu locken bzw. hier zu fördern?

Aus der Entwicklung der Altersstruktur der Beschäftigten ist deutlich geworden, dass die demographische Herausforderung auch in der Region Hannover schon präsent ist und nicht – wie vielfach von der Öffentlichkeit und auch von Seiten der meisten Unternehmen angenommen – noch in weiter Ferne liegt. Um hier gegenzusteuern, muss es gelingen, die Bildungspotenziale der nachwachsenden Generation besser auszunutzen und das Bildungsniveau nachhaltig zu steigern. Dazu sind erhebliche Anstrengungen auf allen Ebenen des Bildungssystems erforderlich, primär in der schulischen Erstausbildung, wo die Grundlagen für den weiteren Bildungsweg gelegt werden. Darüber hinaus müssen wir uns bemühen, mehr Jugendliche in die Berufsausbildung zu bringen. In Hinblick auf die Hochschulabsolventen müssen die Betriebspraktiker von den neuen Hochschulabschlüssen wie Bachelor und Master überzeugt werden, damit deren bis dato zögerliche Haltung überwunden werden kann. Die durch die Studierendenproteste ausgelöste Diskussion über den Bologna-Prozess bietet die Chance, die bisherigen Curricula hinsichtlich ihrer Berufsqualifizierung auf den Prüfstand zu stellen.

Unsere Region Hannover wird zumeist als relativ breit spezialisierter Dienstleistungsstandort eingestuft. Einer der größten Exportschlager – die Rockband Scorpions mit über 100 Mio. verkauften Platten – beendet eine großartige Karriere. Aktuell läuft ihre Abschiedstournee. Welcher Unternehmung trauen Sie einen solchen Erfolg über Jahrzehnte hinweg zu, sprich: Wer wird wirtschaftlich legitimer Nachfolger?

Nach dem Sieg beim Eurovision Song Contest gibt es ja eine neue große hannoversche Musikhoffnung. Ich drücke Lena die Daumen, dass sie eine wunderbare Karriere erlebt und vielleicht ein legitimer Nachfolger von den Scorpions wird (die Rockfans mögen mir das verzeihen). Daneben haben wir ja mit Mousse T. einen weiteren international erfolgreichen Musiker. Darüber hinaus gibt es in Hannover eine sehr lebendige Musikszene, die es verdient hätte, noch stärker im Mittelpunkt der Öffentlichkeit zu stehen.

Regionspräsident Hauke Jagau erwartet für das Jahr 2010 ein Rekorddefizit im Haushalt von 170 Millionen Euro. Gleichzeitig hat Hannover 96 die Klasse gehalten – wie schwer wäre der Verlust für die Haushaltskasse und für das Selbstbewusstsein der Hannoveraner gewesen? Immerhin sind die Hannover Scorpions Deutscher Eishockeymeister geworden!

Ein Abstieg von Hannover 96 wäre wirklich sehr schmerzhaft gewesen. Als Fußballfan und Anhänger von Hannover 96 wünsche ich mir natürlich Erstligafußball in der Stadt. Neben der emotionalen Enttäuschung wäre ein Abstieg aus regionalwirtschaftlicher Sicht ein Rückschlag für die ganze Region. Sponsoren hätten wahrscheinlich ihr Engagement reduziert, die Zuschauerzahlen wären geringer und somit die Einnahmen des Vereins bedroht. Letztlich wären auch höhere Ausgaben für die Stadt Hannover die Folgen. Alles in allem wahrlich keine rosigen Aussichten. Hinzu kommt, dass Hannover 96 ein wichtiger überregionaler Imageträger ist und in Sachen Stadtmarketing Werbung für die Stadt macht. Zum Glück machen auch andere Klubs national auf sich aufmerksam. Hervorzuheben sind die Hannover Scorpions, die in diesem Jahr Eishockey Meister wurden und hoffentlich in der nächsten Saison immer vor ausverkauften Rängen auflaufen können.

Eine persönliche Frage zum Schluss: Vom 11. Juni bis 11. Juli werden viele Augen nach Südafrika gerichtet sein. Wer wird Weltmeister?

Das ist eine sehr schwierige Frage. Aufgrund meiner Herkunft drücke ich zwei Teams besonders fest die Daumen. Ich hoffe auf ein Endspiel Deutschland gegen Spanien.

Herr Professor Dr. Revilla Diez, wir bedanken uns herzlich für das informative und aufschlussreiche Gespräch.

Das Interview führten Norman Rudschuck und Jan-Philipp Kramer